UX-Archäologie: Warum wir die Zukunft im Gestern finden

UX Design fühlt sich oft futuristisch an: KI-gestützte Interfaces, Spatial Computing, neuartige Interaktionen. Doch je weiter wir uns nach vorn bewegen, desto größer wird die Gefahr, die einfachen, menschlichen Prinzipien zu verlieren.

UX-Archäologie bedeutet:

Wir graben in den Geräten vergangener Jahrzehnte und finden Lösungen, die den Test der Zeit bestanden haben.

Nicht Nostalgie.

Sondern Erinnerung daran, wie Mensch-Maschine-Interaktion wirklich funktioniert.

Digitalagentur | Expertin für UX | Marta
Marta Del Re  |  18.11.2025
Retro-Gegenstände auf weißem Hintergrund: Polaroidkamera, alte Spielcontroller, Kassetten, Walkman-Kopfhörer und ein tragbares Radio.

Der Walkman – Tasten, die man fühlen konnte

Bevor Displays die Welt eroberten, musste UX blind funktionieren.

Beim Walkman war jede Taste so gestaltet, dass die Finger wissen, was zu tun ist:

  • Play → Erhöhung in der Mitte

  • Stop → neutral, große Fläche

  • Vor / Zurück → spitz zulaufende Richtungstasten

→ Der Nutzer orientiert sich durch Berührung allein.

Was wir heute vergessen:

Smartphone-UI ist hochgradig visuell – aber keine Option beim Laufen, Autofahren, in der Sonne, für Menschen mit Sehbeeinträchtigung.

Moderne Übertragung:

  • Vibrations-Codes für Aktionen

  • “Reachability”-Design (wichtige Elemente unten)

  • Geräte, die Inputs antizipieren (kontextuelle Steuerung)

Blindbedienung ist König, wenn die Augen anderes zu tun haben.

Polaroid – Sofortfeedback als Experience

Polaroid war das Original-Instagram:

Foto machen → sofortiges Ergebnis in der Hand halten → sozialer Moment.

UX-Kern:

  • Kurzschluss zwischen Aktion und Belohnung

  • Feedback ist nicht nur Information, sondern Emotion

Heute relevant:

  • Ladeanimationen, Mikrointeraktionen, Live-Vorschau

  • UX als Bühne für Sharing Moments

  • Die Belohnung muss Teil des Flows sein

Nutzer lieben das Ergebnis – aber sie lieben den Weg dorthin noch mehr.

Game Boy – Lernen durch Spielen

Der Game Boy hatte kein Onboarding mit Theorie.

Der Nutzer drückte Tasten und verstand, was passiert. Sofort.

UX-Prinzip:

→ Exploration vor Instruktion

Heutige Apps dagegen:

Swipe-Carousel → Pop-up → „Darf ich dir alles erklären?“ → Nutzer weg.

Was wir übernehmen sollten:

  • Funktionen freischalten, wenn sie relevant werden

  • Fehler erlauben – sicher, reversibel, ohne Strafe

  • Tutorials in Micro-Schritten statt Infotafeln

Ein gutes Interface erklärt sich selbst, ein großartiges inspiriert zum Ausprobieren.

Nokia 3310 – UX ohne Angst

Das Nokia 3310 galt als unzerstörbar – aber auch die digitalen Entscheidungen waren unkaputtbar.

  • Löschen? → „Möchtest du wirklich …?“

  • Escape immer sichtbar

  • Jede Aktion rückgängig oder harmlos

UX-Lektion:

Fehlervermeidung durch Design, nicht durch Warnung

Undo > Confirm

Heutige Apps zwingen uns ständig zum Bestätigen, weil das Design selbst nicht sicher ist.

Sicherheit ist UX, nicht UI.

VHS & Kassette – Orientierung auf Zeitachsen

Die Kassette war eine lineare, aber greifbare TimeLine.

Man hörte, fühlte und sah den Fortschritt: Spulen, Rollen, Widerstand.

Heute: glatte Progress-Bars, null Sensorik.

UX-Lerneffekt:

  • Nutzer wollen Verlauf verstehen – wo sie sind, wo sie waren

  • Seek-Previews, Scrubbing-Thumbnails, Time Markers → Orientierung in Medien

Progress ist nicht nur Balken, sondern Kontext.

Die Maus – Intuition der Bewegung

Die Maus war eine Revolution, weil sie körperlogisch funktionierte:

bewegst du deine Hand, bewegt sich der Cursor.

Heute gilt das für Gesten, VR/AR, Voice.

UX-Prinzip:

Interface folgt dem Körper, nicht umgekehrt

  • Swipe, weil die Bewegung Sinn macht

  • Sprache mit natürlicher Semantik

  • Spatial Interfaces = physische Metaphern

Zukunfts-UX gewinnt, wenn sie sich natürlich anfühlt – nicht neu.

Die Waschmaschine – Priorisierung durch Nähe

Tausende Optionen hinter einem Drehknopf – aber nur die drei wichtigsten direkt im Zugriff.

Frequenz schlägt Vollständigkeit.

UX-Übertragung:

  • Primäre Ziele groß, zentral, erreichbar

  • Sekundäres: Menü, Ellipsis, progressive disclosure

  • “Weniger ist nutzbarer”

Wer alles gleich wichtig macht, macht alles unwichtig.

Schlussgedanke: Retro ist nicht rückwärts

Alte Geräte waren nicht besser, weil sie alt sind.

Sie waren besser, weil sie menschlicher waren.

Wenn Digitale Produkte frustrieren, lohnt der Blick zurück.

Nicht um zu kopieren – sondern um zu erinnern, was wir längst wissen.

UX-Archäologie ist ein Reality-Check:

Technologie wird komplexer.

Menschen nicht.

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