Mobile First – immer noch sinnvoll oder überholt?
Seit über einem Jahrzehnt gilt „Mobile First“ als eine der wichtigsten Regeln im UX- und Webdesign. Kaum ein Kickoff-Meeting, in dem nicht darüber gesprochen wird, wie sich Inhalte auf dem kleinsten Screen sinnvoll darstellen lassen. Doch je komplexer digitale Produkte werden – und je differenzierter sich das Nutzungsverhalten entwickelt –, desto berechtigter wird die Frage: Ist Mobile First noch der richtige Ansatz?
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Woher kommt Mobile First?
Der Begriff „Mobile First“ wurde insbesondere durch den UX-Experten Luke Wroblewski populär gemacht. Seine Idee: Beginne das Design eines Produkts auf dem kleinsten, ressourcenbeschränktesten Gerät – dem Smartphone. Dadurch konzentriert man sich automatisch auf das Wesentliche: Kernfunktionalitäten, klare Navigation, verständliche Inhalte.
Dieses Prinzip setzte sich durch – aus gutem Grund:
Mobile Internetnutzung stieg rasant an.
Responsive Design wurde Standard.
Google stellte auf „Mobile-First Indexing“ um.
In vielen Fällen funktionierte das hervorragend. Einfache, aufgeräumte Interfaces wurden zur Norm – nicht nur mobil.
Warum der Ansatz nach wie vor sinnvoll ist
Mobile Nutzung dominiert viele Märkte:
In vielen Branchen (z. B. E-Commerce, Nachrichtenportale, soziale Netzwerke) liegt der Anteil mobiler Zugriffe weit über 60 %. Wer dort nicht zuerst mobil denkt, verpasst Chancen – und verliert Nutzer.Konzentration auf das Wesentliche:
Das Design für kleine Screens zwingt zur Priorisierung. Welche Inhalte sind wirklich wichtig? Was braucht der Nutzer jetzt? Diese Fragen verbessern oft auch die Desktop-Variante.Performance als Designfaktor:
Wenig Platz bedeutet oft auch weniger Overhead. Mobile-First-Denken fördert Performance, Ladezeiten und eine klarere Nutzerführung.
Aber: Ist „Mobile First“ immer noch universell sinnvoll?
Die Realität ist differenzierter. Der „eine“ Nutzer existiert nicht mehr – und auch nicht das „eine“ Gerät.
Komplexe Anwendungen sind meist Desktop-lastig:
Im B2B-Bereich oder bei datenintensiven Tools (CRM-Systeme, Dashboards, Analyseplattformen) ist die mobile Nutzung oft verschwindend gering. Funktionen wie Drag & Drop, Tabellenbearbeitung oder paralleles Arbeiten lassen sich mobil nur eingeschränkt realisieren – wenn überhaupt.Gerätevielfalt nimmt zu:
Foldables, Tablets, Ultrabooks mit Touchscreen: Der Bildschirm ist nicht mehr automatisch ein Indikator für den Nutzungskontext. „Mobile“ heißt nicht immer „unterwegs“, und „Desktop“ nicht immer „komplex“.Mobile Nutzung ≠ vollständige Nutzung:
Viele Produkte werden mobil ergänzend genutzt – z. B. für schnelle Checks, aber nicht für tiefergehende Arbeit. Wer Mobile First überbetont, riskiert, dass Desktop-User auf der Strecke bleiben.
Alternative Denkmodelle
Context First:
Statt vom Gerät ausgehen: lieber vom Nutzungsszenario. Wann, wo, wie und warum greift jemand auf das Produkt zu?Progressive Enhancement:
Beginne mit der Basisfunktionalität – unabhängig vom Gerät. Baue dann stufenweise zusätzliche Funktionen ein, wo sinnvoll.User First:
Am wichtigsten ist nicht die Gerätegröße, sondern der konkrete Nutzer und seine Ziele. UX-Strategien sollten sich primär daran orientieren.
Wann Mobile First heute noch sinnvoll ist
Hohe mobile Nutzung: z. B. in Konsumentenprodukten, Social Apps, Medien.
Eindeutig priorisierbare Funktionen: z. B. One-Task-Anwendungen, To-Do-Apps, Messenger.
Schnelle MVPs oder Prototypen: Mobile Fokussierung reduziert Komplexität und Time-to-Market.
Wann Mobile First kritisch hinterfragt werden sollte
Bei komplexen oder datenlastigen Interfaces: z. B. Business-Tools, SaaS-Produkte, komplexe Formulare.
Wenn Daten zeigen, dass mobile Nutzung marginal ist.
Wenn Mobile First zur Einschränkung wird – nicht zur Hilfe.
Fazit: Mobile First ist ein Werkzeug – kein Dogma
„Mobile First“ war ein Meilenstein in der UX-Evolution. Es hat Designer:innen geholfen, sich auf Nutzerbedürfnisse und funktionale Klarheit zu fokussieren. Doch wie jedes Prinzip muss es im Kontext hinterfragt werden.
Die entscheidende Frage lautet heute:
Was wollen meine Nutzer erreichen – und mit welchem Gerät tun sie das am wahrscheinlichsten?
Nicht der Screen steht im Mittelpunkt, sondern der Mensch.